Zeit für Himbeeren – da musste ich meinem Lieblings-Obststand auf dem Parkplatz an der Ausfallstraße einen Besuch abstatten. Betreiberin des Stands ist eine Obstplantage, das Verkaufspersonal sind immer wechselnde, höchst unterschiedliche Menschen. Am Tag meiner Himbeer-Lust war es eine junge Frau mit einem sehr breiten Lächeln und einem flotten „Du“ auf den Lippen. Ich gewöhne mich natürlich immer besser daran, in allen möglichen und unmöglichen Kontexten geduzt zu werden, aber an diesem Obststand war es das erste Mal und deshalb eine echte Überraschung!
Während ich das passende Kleingeld heraussuchte, gab ich mir innerlich einen Schubs und stellte die Frage: „Duzt du alle Kunden, die hier einkaufen?“ Es bestand ja noch die Hoffnung, dass es eine exklusive Ansprache nur für mich war, weil ich an dem Tag total jung und wahnsinnig sympathisch aussah … „Ja, ich duze alle Kunden“ war jedoch die Antwort. „Ich arbeite sonst in einer Boutique, und da machen wir es auch so, um eine gute Beziehung zu den Kundinnen aufzubauen.“ Für die Teilzeit-Himbeerfee scheinen „Duzen“ und „gute Beziehung“ automatisch zusammenzugehören, so wie Sonne und Flip-Flops oder Kaffee und Milchschaum.
Aber ist das wirklich so? Stellt das „Du“ automatisch eine gute Beziehung her? Fühlt sich damit jede und jeder gut angesprochen? Kann es nicht sein, dass manche Kundin dadurch sogar brüskiert wird? Das „Du“ hat sich in vielen Bereichen schon durchgesetzt, aber eben noch nicht überall. Perspektivisch wird das „Sie“ wahrscheinlich verschwinden wie im angelsächsischen Sprachraum, aber im Moment stecken wir noch in einer Übergangsphase, die echt tricky ist. Bei Umgang mit Fremden kommt es jetzt sehr auf Fingerspitzengefühl und die richtige Einschätzung des Gegenübers an. Dazu folgende Tipps:
Was passt: Nähe oder Distanz?
Beim „Du“ oder beim „Sie“ geht es letztlich um Nähe oder Distanz. Welches Verhältnis ein Mensch dazu hat, lässt sich auch bei Fremden in ihrem Auftreten lesen.
Kleidung
Blazer, Anzughosen, ordentliche weiße Hemden, Pumps, teure, schlichte Markenprodukte, wenig individueller Schmuck – Menschen, die sehr förmlich und vielleicht sogar unpersönlich gekleidet sind, verhalten sich oft auch eher distanziert und reagieren auf ein „Du“ von Fremden möglicherweise pikiert. Wer hingegen vom Styling eher nach Hippie, Hipster oder Handwerker aussieht, kann größerer Lockerheit verdächtigt werden. Natürlich stimmt dieses Voruteil nicht immer, aber wenn die äußere Erscheinung die einzige Information über eine Person ist, die wir haben, ist das besser als nichts. Und schließlich ist Kleidung etwas, das das Gegenüber selbst gewählt hat!
Körpersprache
Auch die Körpersprache kann das individuelle Bedürfnis nach Nähe oder Distanz ausdrücken. Ganz einfach: Wie nah kommt eine Person heran? Wie breit ist das Lächeln? Wie intensiv der Blickkontakt? Wie lebhaft die Gestik? Menschen, die in Ihrer Körpersprache sehr zurückhaltend sind, wünschen sich in der Regel eher Distanz.
Worte
Auch bereits die allerersten Worte aus dem Mund eines Kunden oder einer Kundin können entscheidende Hinweise zu passenden Umgangsformen geben. Beispiel 1: „Guten Tag“, „beeindruckende Kollektion“ und „mein Anliegen“ versus Beispiel 2: „Hey“, „geile Klamotten“ und „Kann ich mal …“ Preisfrage: Wen würden Sie eher duzen, die Person aus Beispiel 1 oder die aus Beispiel 2?
Ach übrigens: Beziehungsaufbau erfordert natürlich viel mehr als nur die passende Anrede. Mehr dazu in diesem Beitrag zum Thema Wertschätzung.
Du oder Sie? – Teil 1: Neulich im Hotel