„Ich brauche nicht Neues zum Anziehen. Man geht ja nirgendwo hin!“ Diese lakonische Feststellung einer Tante von mir bringt sie auf den Punkt – die gegenwärtige Misere der Modeindustrie. Hersteller und Händler sitzen auf großen Bergen nicht verkaufter Kleidungsstücke, während andere Kollektionen gar nicht erst produziert wurden. Allein die deutsche Bekleidungsindustrie musste durch die Corona-Krise Umsatzeinbußen von rund 20 Prozent hinnehmen.
Zuerst machten der Textilbranche geschlossene Geschäfte, unterbrochene Produktionsketten und abgesagte Modenschauen zu schaffen. Und dann verliebten wir uns ganz neu in die Jogginghose … Wenn ich mich auf der Straße so umschaue, dann habe ich den Eindruck, dass sich aus dieser Verliebtheit inzwischen eine stabile Beziehung zu allerlei Kleidungsstücken aus der Kategorie „Homewear“entwickelt hat, Dresscode „Nachlässig“. Für ein Videomeeting braucht man ja auch nur den Oberkörper zu stylen und für die seltenen Präsenztermine findet sich im Kleiderschrank immer noch etwas, das geht.
Schneller und immer schneller: Das Modekarussell ist zusammengebrochen
Bislang lief das Modekarussell so: Die internationalen Top-Designer entwarfen pro Jahr vier bis acht (!) Kollektionen und inszenierten und vermarkteten sie mit einem gigantischen Aufwand. Das führte dazu, dass ein Louis-Vuitton- oder Dior-Kleid mal eben so viel kosten konnte wie ein asiatischer Kleinwagen. Und jedesmal, wenn die Top-Designer mit etwas Neuem um die Ecke kamen, mussten die günstigen Nachahmer von Zara bis Primark hinterher … So gab es in jeder Preisklasse ständig neue „Must Haves“, die bereits nach kurzer Zeit „out“ waren und ausrangiert wurden.
Jetzt aber sind die Designer selber froh – Giorgio Armani hat das kürzlich in einem Interview mit der „Elle“ zugegeben – dass die Trend-Tretmühle gestoppt ist. Was war das für ein Stress! Vom Thema Nachhaltigkeit mal ganz zu schweigen. Alle wollen jetzt langsamer weitermachen und eher auf Qualität als auf Quantität setzen. Beim Blättern in Hochglanz-Modemagazinen fiel mir in den letzten Wochen folgendes auf: In offensichtlicher Ermangelung von aktueller Street-Style-Fotografie wurden Bilder von den üblichen Fashionistas veröffentlicht, die ein, zwei oder sogar drei (!) Jahre alt waren. Viele der Outfits wirkten neu, interessant und schön, andere so daneben wie sonst auch. Und selbst die frisch produzierten Mode-Shootings scheinen aus der Zeit gefallen: Viel Klassik, viel Sportliches und einige historische Anleihen wie etwa Spitzenkrägen, Blümchenmuster und Volants. Das ist Nummer sicher. Das geht immer.
Orientierung an der eigenen Persönlichkeit
Wenn es also keine kurzlebigen Trends mehr gibt bzw. eigentlich überhaupt nichts, was als Trend so richtig greifbar ist, woran können wir uns dann orientieren? Viele Frauen und Männer haben während des Lock-downs nicht nur den Keller aufgeräumt, sondern auch den Kleiderschrank. Haben Sie dabei auch jede Menge prima „alte Hündchen“ wiedergefunden und sich bei vielem anderen gefragt: „Wofür brauche ich das eigentlich?“ Wenn ein Großteil der Aktivitäten wegfällt, bei denen wir uns für andere inszenieren und in eine Art Kleidungswettbewerb treten, entsteht ein gesunder, kritischer Abstand zu all dem Zeug, das sich im Schrank drängelt. Das ist die Gelegenheit, um unsere Garderobe zu hinterfragen: Welche Anlässe sind für mich wichtig? Wie will ich wirken? Was will ich mit meiner Kleidung ausdrücken? Und was passt eigentlich zu mir?
So kann das Ende der Trends zur Befreiung werden. Jetzt können wir uns endlich auf unseren eigenen Stil konzentrieren ohne Angst haben zu müssen, irgendeinen modischen Anschluss zu verpassen. Der eigene Stil ist obendrein nachhaltig: Was mir steht und meine Persönlichkeit widerspiegelt, kann ich auch lange tragen.
Wie finden Sie Ihren eigenen Stil?
Möglichkeit 1: Wählen Sie aus, was Ihnen (und nicht Freunden, Nachbarn, Kollegen) einfach gefällt. Meine Erfahrung als Stilberaterin hat mir gezeigt, dass in dem, was gefällt, oft im Kern etwas steckt, das auch stimmig zur Person ist. Viele Menschen ahnen, was ihnen steht, trauen sich aber oft nicht, das umzusetzen.
Möglichkeit 2: Schauen Sie auf Ihren Körper und seine Strukturen. Die Qualität von Haut und Haaren (z. B. dick, dünn, fest oder fließend) sollte sich in den Materialien der Kleidung wiederfinden. Gesichtsformen und ggf. auch die Form von Sommersprossen oder Haarlocken bieten natürliche Anregungen für Muster. Vertrauen Sie Ihrem Auge bzw. Ihrem Gefühl, ob etwas stimmig ist oder nicht.
Probieren Sie was aus! Jetzt ist genau die richtige Zeit dafür! Gerne unterstütze ich Sie bei dem Prozess.
Fotos oben und Mitte: shutterstock
Foto unten links: Unsplash/Ahmadreza Najafi
Toller hilfreicher Gedanke auch auf Struktur von Haaren und Haut zu achten, die sich in den Stoffen wieder finden sollten. Noch nie so gedacht 🙏